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Baumwollspinnerei Leipzig in Sachsen

Entdeckungen im angesagten Leipziger Westen

Für Messe, Kultur und Musik ist die Stadt an der Pleiße weltbekannt. Leipzig ist aber auch jung, modern und hip. Die Stadtteile Plagwitz und Lindenau verwandelten sich in den vergangenen Jahren in Lieblingsplätze der Kreativszene. Alte Fabrikhallen wurden zu künstlerischen Freiräumen.

Carl Heine und der Aufstieg von Plagwitz

Doch tauchen wir erst einmal ein in die wechselvolle Vergangenheit: „Noch vor 170 Jahren lebten im Dörfchen Plagwitz bei Leipzig nur 300 Einwohner“, erzählt Frank Baacke, der im Auftrag der Agentur evendito Neugierige durch das Viertel führt. Das benachbarte Lindenau war schon damals dichter besiedelt. Auf dem Stadtgebiet kreuzten sich die zwei Fernhandelswege Via Imperii und Via Regia. Sie begründeten Leipzigs Ruf als Messestadt. Ein Problem gab es bei den Messen allerdings immer wieder: Hochwasser. Und so mussten die Zuwege Leipzigs ständig mühevoll trockengelegt werden. Das einstige „Plochtewitz“ hingegen befand sich auf einer Anhöhe, dem Inselberg. So kam der Unternehmer, Rechtsanwalt und Gutsbesitzer Ernst Carl Erdmann Heine auf die Idee, hier zu investieren.

Es entstand das wohl älteste nach einem Plan konzipierte Industrieviertel Deutschlands. Heine ließ Deutschlands ersten Industriebahnhof anlegen, von dem zahlreiche Anschlussgleise zu einzelnen Parzellen führten, auf denen sich Unternehmen ansiedeln sollten. Für kleinere Firmen, die sich keine eigene Anschlussstelle leisten konnten, gab es drei Ladestellen. „Heine war ein echter Gewinn für Leipzig“, erklärt der Stadtführer. Die Bemühungen trugen Früchte: Mitte der 1880er Jahre hatte Plagwitz 16.000 Einwohner, genauso viele etwa wie heute. Allerdings besaß der Stadtteil damals etwa ein Drittel weniger Fläche. Fabriken, Werkstätten und Firmengebäude wurden errichtet, unterbrochen von zahlreichen Straßenzügen mit Wohnungen für alle, die dort arbeiteten.

Afrikanische Baumwolle für Leipzig

Carl Heine hegte noch eine weitere geniale Idee: afrikanische Baumwolle nach Leipzig zu verschiffen. Dafür plante er, die Weiße Elster durch einen Kanal mit der Saale zu verbinden. 1856 begannen die Arbeiten am ersten Teilabschnitt. So schuf der Unternehmer die Grundlagen für die heutige Wasserstadt und zugleich für Leipzigs kreatives Wahrzeichen, die Baumwollspinnerei.

Kreativzentrum Baumwollspinnerei Leipzig in Sachsen

„From Cotton to Culture“ lautet das Motto im Kreativzentrum Baumwollspinnerei. Foto: Andreas Schmidt

Vor über 125 Jahren erwarb die Leipziger Baumwollspinnerei AG von Heine ein Grundstück von rund zehn Hektar Größe. Nach und nach wuchs eine beeindruckende Fabrikstadt mit Arbeiterwohnungen und Kindergarten heran, schlussendlich die größte ihrer Art in Europa. Nach der Wende erkor die sogenannte „Neue Leipziger Schule“ – mit prominenten Malern wie Neo Rauch – die Spinnerei zu ihrer Heimat. Auf dem Gelände befinden sich so viele Galerien und Ausstellungsräume wie sonst nirgendwo in der Messestadt. Im Frühjahr und Herbst öffnet das Industriekultur-Denkmal jeweils ein Wochenende lang seine Ateliers für alle Kunsthungrigen.

Industriearchitektur vom Feinsten

Mit der Ansiedlung von Rudolf Sack gelang dem Industriepionier Heine ein zusätzlicher genialer Coup. Der Fabrikant verlegte seine Produktion von Löben nach Leipzig an die heutige Karl-Heine-Straße und ließ hier Landmaschinen bauen. In dem Architekturensemble der 1870er Jahre ist nunmehr unter anderem das „Da Capo“ zu Hause, ein edel anmutendes Oldtimermuseum mit Eventhalle. Ein paar Schritte weiter zeigt sich wieder, warum Plagwitz so besonders und einzigartig ist: Wo es früher nach Bohremulsionen roch, weht heute der Duft kulinarischer Leckerbissen durch die Luft. Im „Upper West“ begleiten Genüsse für den Gaumen optische Freuden, denn die Ausstattung des Restaurants ist im schicken Industrial-Style gehalten.

Oldtimer aus 100 Jahren Automobilgeschichte präsentiert das „Da Capo“ in Leipzig

Schicke Oldtimer aus 100 Jahren Automobilgeschichte präsentiert das „Da Capo“. Foto: Christian HüllerCarl Heines Vision von einem Kanal bis nach Hamburg inspirierte den Architekten Fritz Höger beim Entwurf der Konsumzentrale an der Industriestraße. Zwischen 1929 und 1932 errichtet, erinnert das Gebäude an ein imposantes Schiff. Gefeiert wurde Höger für sein Hamburger Chile-Haus, doch wer die Konsumzentrale in Leipzig betritt, der erkennt auch dort die Genialität des Baumeisters. Im Eingangsflur finden sich türkisfarbene Fliesen, die Assoziationen an die entfernte Südsee wecken. Der Handlauf der Treppe gleicht der Reling eines Schiffes – Art Déco in seiner vollkommensten Form. Bekannt ist die vielleicht berühmteste Eingangshalle der Stadt zudem durch den Tatort aus Leipzig, der hier viele Jahre lang spielte.

Wasserwege, Kunst und kulinarische Genüsse

Stelzenhaus im Leipziger Stadtteil Plagwitz

Das Stelzenhaus zeugt von den industriellen Boomjahren des Stadtteils Plagwitz. Foto: Andreas Schmidt

Zur Gründerzeit boomte Plagwitz. Immer mehr Unternehmen siedelten sich an. Dies führte in den folgenden Jahrzehnten zu wachsenden logistischen Problemen. „Der fehlende Platz machte die Menschen erfinderisch“, berichtet Frank Baacke. Gut zu sehen ist das anhand des sogenannten Stelzenhauses am Karl-Heine-Kanal, das zwischen 1937 und 1939 errichtet wurde. Für die Wellblechfabrik und Verzinkerei Grohmann & Frosch wurde ein Haus samt Plattform in Pfahlbauweise in die Biegung des Kanals gebaut. Großflächige Stahlträger ließen sich so direkt aufs Wasser verladen. Das Fundament scheint über der Böschung zu schweben. Unweit davon legt die MS Weltfrieden ab. Seit den Nachkriegsjahren auf dem Auensee im Einsatz, können Touristen seit 1998 mit ihr in friedlicher Mission über den Karl-Heine-Kanal und die Weiße Elster schippern.

In einer ehemaligen Gießerei am Westwerk in Leipzig hat das Restaurant „Kaiserbad“ sein Domizil.

In einer ehemaligen Gießerei am Westwerk hat das Restaurant „Kaiserbad“ sein Domizil. Foto: Kaiserbad/Sebastian Willnow

Aus dem 19. Jahrhundert stammt das Westwerk in der Nähe der König-Albert-Brücke. In den Werkhallen wurden vor und nach 1945 Industriearmaturen produziert, bevor ab 2007 Kreativschaffende aller Couleur in die zahlreichen Gebäude zogen, darunter Lampendesigner und Fotografen. Ausstellungen, Märkte und Konzerte gehören zu den regelmäßig stattfindenden Events. Gleich daneben befindet sich in einer einstigen Gießerei das hippe „Kaiserbad“, ein Restaurant im Retro-Stil. „Hier ist der Kunde nicht nur König, sondern Kaiser“, erzählt Stadtführer Baacke mit einem Augenzwinkern. Das Tapetenwerk in Lindenau ist ein weiteres Denkmal aus dieser Epoche. Es war zeitweilig die zweitgrößte Tapetenfabrik Deutschlands. Jetzt steht auch hier die Kunst im Mittelpunkt, allerdings im kleineren, familiären Rahmen. Galerien, Werkstätten, Ateliers, Büros und Gastronomie haben sich in den Mauern angesiedelt, unter anderem ein Longboardhersteller und ein Anbieter für Coworking-Spaces.

Mit der Gondel von den Buntgarnwerken durch „Klein Venedig“

Von der Elsterbrücke an der Industriestraße offenbart sich die wohl beliebteste Plagwitzer Ansicht – die Buntgarnwerke direkt an der Weißen Elster. Einst wurden in den fünf Meter hohen Werkhallen Garne mit Dampf gefärbt. Mittlerweile sind sie Lebens- und Arbeitsraum und die schicken Loft-Wohnungen heiß begehrt. Unweit der Buntgarnwerke produzierte das erste deutsche Versandhaus Mey & Edlich. Es besaß ein Patent für die Herstellung von Hemdkragen und Manschettenknöpfen aus Papier. Mit diesen Waren konnte sich jeder fein kleiden, egal ob arm oder reich.

Dank seiner vielen Wasserwege besitzt Leipzig den Beinamen „Klein-Venedig“, venezianische Gondeln inklusive.

Dank seiner vielen Wasserwege besitzt Leipzig den Beinamen „Klein-Venedig“, venezianische Gondeln inklusive. Foto: Andreas Schmidt

Leipzigs Beinamen „Klein-Venedig“ nahm der findige Italiener Vito Signorello übrigens wörtlich und bietet seit 1999 Fahrten mit venezianischen Gondeln von den Buntgarnwerken aus an. Carl Heine wäre begeistert gewesen.

Autorin: Denise Hertel

Im Leipziger Kunstkraftwerk finden zahlreiche Veranstaltungen statt.

Foto: Luca Migliore

„Boomtown“-Lichtshow im Kunstkraftwerk

Das Kunstkraftwerk Leipzig in der Saalfelder Straße 8 b entführt mit der 360-Grad-Lichtshow „Boomtown – Leipziger Industriekultur“ in das industrielle Leipzig zwischen 1840 und 1989 und zeigt mit authentischen Archivaufnahmen und Motiven von heute, wie sich die Stadtteile Lindenau, Plagwitz und Schleußig entwickelt haben.

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